EX-BIATHLETIN SPRICHT üBER SEXUELLEN MISSBRAUCH AM ALTENBERGER SPORTINTERNAT

Nora Hansel ist am Sportgymnasium Altenberg missbraucht worden. 20 Jahre später spricht sie erstmals über die schwere Zeit als Biathletin - die wegen eines Hirntumors schlagartig endete. Die Oberlausitzerin hat sich dennoch zurück auf Ski gekämpft.

Altenberg. Fast 20 Jahre, nachdem ein Trainer vom Landesleistungszentrum Altenberg des sexuellen Missbrauchs überführt wurde, äußert sich eines der damaligen Opfer. Es ist die Geschichte von Nora Hansel aus Neugersdorf in der Oberlausitz. Einer ehemaligen Biathletin, die auf dem Weg in den Weltcup war - aber anders als ihre Zimmerpartnerin Tina Bachmann nie dort ankam. In einer ARD-Dokumentation spricht sie erstmals öffentlich über den Missbrauch an ihr, und über schwere Krankheiten, die sie zurückwarfen.

Im Gespräch mit Sächsische.de wirkt Hansel gefasst, spricht langsam, klar und mit Nachdruck. Doch ihr Seelenleben ist noch immer von Unsicherheiten geprägt. "Stabile, intime Beziehungen aufzubauen, fällt mir unglaublich schwer", sagt Hansel, die bei den ersten Vergehen 13 Jahre jung war. Mittlerweile hat sie sich in Nordrhein-Westfalen ein neues Leben aufgebaut und den Missbrauch in einer Therapie aufgearbeitet. Mit ihrer Familie kann sie noch immer kaum über diese Zeit sprechen.

Hansel wuchs in der Oberlausitz auf und nahm schon als Kind an Langlaufwettbewerben teil. Später wechselte sie zum Biathlon und kam in der siebenten Klasse auf das Sportgymnasium in Altenberg. Ihre schlimmsten Stunden begannen nach dem Training, wenn es mal nicht so gut lief. "Der Trainer sagte, dass ich doch dann mal auf seinem Zimmer vorbeikommen soll", sagt Hansel.

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Hansel entwickelt eine Essstörung und muss in die Klinik

Später streichelte er sie, griff ihr unters T-Shirt und küsste sie. Die Übergriffe wurden häufiger, und eine Vertrauenslehrerin wurde auf Hansel aufmerksam. Sie riet ihr, sich nicht auf den Trainer einzulassen. "Das macht er mit ganz vielen, das ist bekannt", erinnert sich Hansel an die Worte.

Doch der Trainer nutzte ihre Abhängigkeit aus. Die junge Frau wollte Biathlon machen, dafür brauchte sie ihn. Irgendwann fragte der Trainer, ob er mit ihr schlafen dürfte. Hansel sagte nichts. "Ich wusste da nicht, dass ich hätte Nein sagen können", sagt sie heute. Als sie sich später versuchte zu wehren, ging der Täter darüber hinweg. Von den Missbräuchen erzählte die Teenagerin niemandem.

Auch Tina Bachmann, heute noch der einzige Kontakt, den Hansel zu der damaligen Zeit hält, wusste nichts. Hansel entwickelt eine Essstörung und musste in einer Klinik behandelt werden. "Ohne den Missbrauch hätte ich die wahrscheinlich nicht bekommen", sagt Hansel.

Dass es jemanden gab, der zumindest etwas von dem Missbrauch an ihr ahnte, erfuhr Hansel erst Jahre später. Eltern eines anderen Mädchens hatten den Trainer angezeigt, auch Hansels Name wurde der Polizei in diesem Zuge genannt. Beim Prozess 2008 kam heraus, dass der Mann das Vertrauen von mindestens drei Mädchen schwer missbraucht hatte. "Wir wissen auch noch von anderen, die nicht zur Polizei gegangen sind", sagt Hansel.

Der damals 31-Jährige gesteht und bekommt eine Haftstrafe für zwei Jahre auf Bewährung. Was Hansel besonders erschüttert ist, dass er heute wieder Sportlerinnen trainiert. "Anscheinend interessiert keinen das Führungszeugnis." Auch der ehemalige Biathlet Michael Rösch trainierte damals unter dem Mann. In der ARD-Dokumentation erzählt er, dass er und seine Freundin die betreffenden Vereine und Schulen aufmerksam gemacht haben. "Drei der vier haben reagiert".

Hansel will mit ihren Erfahrungen andere aufmerksam machen. Als sie sich bei der ARD meldete, hatte sie gerade eine Doku über sexuellen Missbrauch im Sport gesehen. Hansel war erschüttert: "Es war immer noch das Gleiche. Funktionäre ducken sich weg. Ich habe mich gefragt, wie das sein kann", sagt die gebürtige Neugersdorferin. Sie beschloss, ihre Geschichte öffentlich zu machen. Drei Jahre lang ließ sie sich von einem Filmteam begleiten.

Plötzlich konnte sie nicht mehr Treppensteigen

In dem Film besucht sie auch die Trainingsräume in Altenberg. Etwa vier Jahre nach dem Prozess war sie schon einmal im Erzgebirge. Doch in die Internatsräume durfte sie nicht. "Die Internatsleitung sagte mir, dass ich Imageschaden über die Region gebracht hätte."

Hansel wurde erst nach der Anzeige und einem Anruf des Trainers bewusst, dass er eindeutig Grenzen überschritten hatte. Zu der Zeit hatte sie Altenberg schon verlassen. Denn sie musste in ihrem noch jungen Leben einen weiteren schweren Schlag verarbeiten. Während ihrer Schulzeit nahmen die Leistungen rapide ab, eines Morgens konnte sie plötzlich keine Treppen mehr steigen. Die Diagnose: Hirntumor. Nach der Operation musste die damals 18-Jährige Schritt für Schritt jede Bewegung neu lernen. An Biathlon war nicht zu denken.

Hansel machte ihr Abitur in Zittau und begann in Niedersachsen ein Studium für Pädagogik und Sozialwissenschaften. Heute arbeitet sie in Gelsenkirchen bei der Arbeitsagentur Bochum und promoviert nebenbei an der Uni Münster. Dort forscht sie zum Einfluss des Skifahrens auf das Gleichgewicht von Tumorpatienten. Der Sport hat Hansel auch nach ihrer Zeit als Biathletin nie losgelassen.

"Drei, vier Jahre nach der OP habe ich mir gedacht: Okay, ich würde gern mal wieder an einem Wettkampf teilnehmen", erzählt Hansel. Skifahren im freien Stil ging nicht, denn noch heute hat sie Bewegungsstörungen auf der rechten Seite und teilweise Lähmungen. Hansel ließ sich davon nicht unterkriegen. Durch einen Bekannten entdeckte sie Triathlon für sich und startete neben dem Studium eine zweite Karriere als Para-Triathletin. Sie war schnell erfolgreich und holte schon bei ihrem ersten internationalen Turnier den EM-Titel.

Am Holmenkollen in Oslo erfüllt sich Hansel einen Traum

2018, im Alter von 34 Jahren verabschiedete sich die Oberlausitzerin vom Profisport. Ein Start bei den olympischen Spielen wäre ihr Traum gewesen, doch ihre Startklasse ist dort nicht zugelassen. Dafür hat sich Hansel einen anderen verwirklicht. Anfang dieses Jahres startete sie bei einem klassischen Skiwettbewerb über 18 Kilometer am Holmenkollen in Norwegen. Erst eine Woche vor dem Wettkampf schnallte sie sich die Skier an, vorher trainierte sie zu Hause Kraft und Ausdauer. "Meine Eltern haben schon immer gesagt, dass ich ein Mensch bin, der lieber mit dem Kopf durch die Wand geht, als die Tür zu nehmen", sagt Hansel.

Nach dem Rennen war sie überglücklich, das Wettkampffieber war wieder ausgebrochen. Hansel kann sich vorstellen, weitere Langlaufwettbewerbe zu bestreiten. Rückschläge hauen sie so schnell nicht mehr um. Das liegt auch an ihrer Einstellung: "Ich bin jetzt hier und ich lebe mein Leben so wie ich es kann und das ist viel mehr wert, als weiter in der Vergangenheit zu bleiben."

Die Dokumentation "Nora Hansel - Eine Athletin kämpft um ihr Leben" ist in der ARD-Mediathek zu finden.

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