REIZSTIMMUNG BEIM HAMBURGER SV

Zweite Liga

Reizstimmung beim Hamburger SV

Der Frühjahrsblues ist seit dem Zweitligaabstieg zur betrüblichen Tradition am Traditionsstandort geworden. Eine Analyse von Jan Christian Müller.

Als Steffen Baumgart im Februar das erste Training des Hamburger SV leitete, sah man den Fußballlehrer bei bester Laune. Tausend Fans waren gekommen, Aufbruchstimmung. Baumgarts Schiebermützen gingen im Fanshop weg wie warme Semmeln. Der Trainer tat bald kund, er freue sich „jeden Tag den Arsch ab“, der gebürtige Rostocker war ja schon als Kind ein glühender Fan des HSV, zu Zeiten allerdings, als der Verein noch Erfolge feierte, sogar in Europa.

Wer Baumgart nach zwei unerquicklichen Monaten als Chefcoach des Zweitligisten beobachtet, sieht inzwischen einen Mann, der bei den Pressekonferenzen sein Käppi so tief gezogen hat, dass der Schirm regelmäßig sein halbes Gesicht verdeckt. Als ob er die Fragesteller lieber gar nicht sehen will. Oder zumindest zu vermeiden versucht, dass sie ihm in die Augen blicken.

Vor der Partie am Samstagmittag bei Eintracht Braunschweig lud der HSV zur Kinder-Pressekonferenz. Der Klub macht das immer wieder mal. Baumgarts Vorgänger Tim Walter hatte die etwas anderen Fragen der jungen Fans stets genossen und dabei eine zuvorkommende Freundlichkeit verbreitet, welche die ständigen Reporter in dieser Form von ihm selten gewohnt waren.

Baumgart, der Suchende

Baumgart fiel die Charmeoffensive in diesen trüben Tagen nachvollziehbar schwer. Als er anfing, befand sich der HSV auf Platz drei mit vier Punkten Rückstand auf Platz zwei. Inzwischen sind die Rothosen Vierter mit elf Zählern Rückstand auf den Zweiten, sechs auf den Dritten. Nichts hat sich so entwickelt wie erhofft. Die taktischen Fesseln des Tim-Walter-Fußballs sollten von Baumgart gelöst werden. Stattdessen befindet sich die Mannschaft in einer Schaffenskrise. Wieder mal. Egal, ob der Trainer jung war (Hannes Wolf), erfahren (Dieter Hecking, Horst Hrubesch) oder eine Mischung aus beidem (Daniel Thioune und Tim Walter). Egal, ob der Trainer bis zum Saisonende bleiben durfte oder vorher gehen musste.

Die Frühjahrsblues sind seit dem Zweitligaabstieg zur betrüblichen Tradition am Standort geworden. Saison 2018/19: nur drei von 24 Punkten zwischen dem 26. und 33. Spieltag. Saison 2019/20: sechs von 21 Punkten vom 22. bis 29. Spieltag. Saison 2020/21: sechs von 21 Punkten vom 27. bis 33. Spieltag. Saison 2021/22: fünf von 21 Punkten zwischen dem 23. und 29. Spieltag. Saison 2022/23: neun von 24 Punkten zwischen dem 24. und 31. Spieltag.

Das setzt sich unter Baumgart ganz ähnlich fort. Der Punkteschnitt in acht Partien ist mit 1,38 für eine Zweitliga-Spitzenmannschaft mit Aufstiegsambitionen indiskutabel. Es war bislang nicht wirklich erkennbar, mit welchen Mitteln er sein Team in die Bundesliga coachen wollte. Inzwischen ist es wahrscheinlich zu spät. Der Trainer wirkt wie ein Suchender, der sich noch in der Orientierungsphase befindet. Und an der Sprunghaftigkeit seiner Mannschaft bisweilen schier verzweifelt.

Baumgart ist seit seiner lange erfolgreichen Zeit beim 1. FC Köln den erhöhten Druck von Bundesliga-Traditionsstandorten gewohnt. Aber in Hamburg wirkt er nach wenigen Wochen schon abgekämpft, manchmal unleidlich und dünnhäutig. Offenbar gleicht das Trainerleben beim HSV einem Hundeleben.

Bei der Pressekonferenz mit den Kindern verbarg Baumgart nicht, wie hart getroffen er von mancher Kritik ist, die sich in den vergangenen Wochen vor ihm aufgetürmt hat. „Ich weiß, wer aus welcher Ecke schießt. Wenn jemand klug ist und schon lange im Job, dann merkt er sich einige Dinge.“ Es klang wie eine Drohung. Die professionellen Journalisten im Raum ließ er angesichts manch pfiffiger Kinderfrage wissen: „Manchmal habe ich tatsächlich das Gefühl, dass ihr euch keine Gedanken macht, auch bei einigen Artikeln von euch.“

Fans stehen zum Klub

Es lässt sich unschwer eine Reizstimmung im Verhältnis zu den in Hamburg traditionell einflussreichen und meinungsbildenden Medien ausmachen, die für eine gedeihliche Atmosphäre wenig förderlich erscheint. Für das Verhältnis zu den eigenen Fans gilt das (noch) nicht. Das Publikum goutiert die Vorstellungen auch im sechsten aufeinanderfolgenden Zweitligajahr in einer respektablen Hingabe mit maximaler Frustrationstoleranz. Aktuell kratzt der HSV mit mehr als 57 000 Zuschauern am Rekordschnitt von vor 18 Jahren.

Und noch etwas sollte nicht unterschlagen werden: Der Klub hat sich finanziell stabilisiert. Er schreibt endlich wieder schwarze Zahlen und baut Verbindlichkeiten ab. Aber er hat für seinen Spielerkader dennoch im sechsten Zweitligajahr in Folge so viel Geld ausgegeben, dass ein Aufstieg die logische Folge hätte sein müssen. Wieder und wieder befinden sich Aufwand und Ertrag nicht im Einklang miteinander. Wenn die Diagnostik einfach wäre, gäbe es längst eine Lösung. Der Wechsel von Walter zu Baumgart hat sie vorerst nicht gebracht.

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